Marx ohne Feigenblatt

oben: Das ist Kapital (Foto: Honza Groh (Jagro)

Vor gut 200 Jahren lag der kleine Karl Marx in der Wiege, und bis vor dreissig Jahren lebte ein Drittel der Menschheit nach seinen Lehren. Das erklärt sich aus vier Geniestreichen, oder Tricks, oder Sturheiten in seinem Werk „Das Kapital“.

Der erste Streich – Marx unterschied bei allem den Gebrauchswert und den Tauschwert. In jedem Brockenhaus finden sich Tische, deren Gebrauchswert, als Tisch zu dienen, höher liegt als der angeschriebene Ramschpreis, der Tauschwert. Die Käufer kriegen mehr als sie zahlen. Marx wandte dies nun auf die Arbeit selbst an. Der Tauschwert des Arbeiters ist sein Lohn, aber sein Gebrauchswert für den Kapitalisten ist es, mehr als die Lohnsumme zu produzieren. Denn die Arbeitermassen aus dem „Baby-Boom“ des 19. Jahrhunderts ("demographischer Uebergang") erlaubten dem Fabrikbesitzer, den Lohn auf das Existenzminimum zu drücken, eben auf den Tauschwert, der den Arbeiter knapp auf den Beinen hielt.

Und schon sehen wir den Mehrwert, den die Fabrik einsteckt.

Als zweiten Streich zeigte Marx den Kapitalisten, der unter der Fuchtel der Konkurrenz die Arbeiter hinter immer mehr Maschinen stellt und so den Mehrwert maximiert. Mit viel Wortklaubereien hält Marx fest, dass nicht das Kapital mehr Werte schafft, sondern nur die Arbeit. Das meinte auch noch Adam Smith in seiner klassischen Oekonomie. Immer mehr Maschinen senken aber die Preise, und damit die Kosten der Arbeiter, ihr Existenzminimum. Immer mehr Kapital wird daher in Maschinen als Organe des Mehrwerts gesteckt, die „organische Zusammensetzung des Kapitals“ nimmt zu. So aber geht es flott auf enorme Ueberproduktionen zu, auf den Fall der Profitrate durch Maschinen, durch die Konkurrenz, durch den Weltmarkt. Das System implodiert, die finale Krise des Systems ist dann da. Die Arbeiter lehnen sich auf und lenken nach der Revolution als freie, assoziierte Produzenten den Mehrwert in die eigene Tasche.

Wenn Lenin dieser fast biblischen Endzeithoffnung vorausgriff, mit einer Palastrevolution in Petersburg und in einem rückständigen Agrarstaat, war das ein Stilbruch. Die deutsche KPD war sturer und verweigerte in der Weimarer Republik jede Koalition mit den Weichlingen der Sozialdemokratie. Hitler bekam auch dadurch seine Chance.

Denn, durch seinen dritten Streich, stilisierte Marx seine Theorie als „wissenschaftlichen Sozialismus“. Eherne Gesetze des Kapitals herrschten, die Begriffe, die Mechanismen, das Ergebnis waren von ihm unabänderlich definiert. Wer sich quer stellte, war unwissenschaftlich, verbockt und keinesfalls ernst zu nehmen. In den kommunistischen Parteien beanspruchte deren Führungsspitze diese „kulturelle Hegemonie“ zwecks Kampfs der ganzen Klasse, Abweichler wurden ausgeschlossen, und unter Stalin auch erschossen. Noch heute sehen wir die Volkswirtschaft als System in der Totale. DER Konsum, DIE Produktion, DIE Arbeit, DAS Kapital beherrschen die Abläufe. Dies sind auch die Hebel des John M. Keynes, mit denen der zentrale Staat die Volkswirtschaft steuern soll - und welche seither den Superstaat erzwangen. Typischerweise heisst Marxens Werk „Das Kapital“, nicht „Der Unternehmer“. Die Kapitalisten sind genau wie die Arbeiter nur getriebene Rädchen des unerbittlichen gesellschaftlichen Prozesses. Wenn der Wettbewerb die kleinen Kapitalisten verdrängt und die grossen begünstigt, dann ist dies „die Expropriation der Expropriateure“. Marx deutete moderne Vorgänge oft eindrücklich –  die Konzentration, die Globalisierung, die Rolle der Technik.

Aber dann fügte sich der vierte Streich an. Der Ton in Marxens Schriften ist oft gehässig gegenüber anderen Theorien, Frühsozialisten, Reformern. Denn nur dieser wissenschaftliche Sozialismus steht für den Arbeiter ein, nur er kennt den Lauf der Geschichte. Dieser moralisch aufgeladene Ton prägt seither gewerkschaftliche Slogans, sozialistische Parteien, die – ganz unmarxistisch – den einzelnen Unternehmer, dieses blosse Rädchen, als habsüchtiges Wesen anklagen. Demgegenüber muss bei jeder Diskussion voraus gelten, dass jeder auf gleichem moralischen Stand redet.

Entmoralisiert wurde die Volkswirtschaftslehre schliesslich durch die Sicht des Grenznutzens. Vor allem die österreichische Schule der Nationalökonomie liess nach 1900  die Wortklaubereien links liegen und zeigte, dass die letzte noch genutzte Einheit an Arbeit, an Kapitaleinsatz den Preis aller anderen Einheiten bestimmt. Wenn die Wirtschaft verzweifelt Arbeitskräfte sucht und hoch bezahlt, gehen die Löhne hoch, alle. Wenn das zuletzt erzeugte Produkt keine Abnehmer findet, fällt sein Preis, jener aller anderen gleichen Produkte auch. Es ist unerheblich, wieviel Arbeit, Kapitaleinsatz vorher in diese unverkäuflichen Stücke gesteckt wurde.  Subjektive Wertlehre gilt, was der nächste bezahlen will, nicht objektive, versteinerte Werte. Lasst also den Mehrwert, den Gebrauchswert, die unverrückbare Totale, die festgefügte Arbeiterklasse, seht auf den einzelnen Teilnehmer und Vorgang, so wurde Marx gekontert.